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2023-02-22 16:24:46 By : Ms. Frances Lu

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"Ich war 16, als ich das erste Mal jemanden umgebracht habe", erzählt Grace.

Es war ein Mitkämpfer, von den Rebellen zum Tode verurteilt. Er sollte sterben, weil er angeblich fliehen wollte. Grace soll ihn dafür umbringen.

"Ich habe ihm einen schmutzigen Lappen um den Kopf gebunden, damit er nichts sieht. Dann habe ich einen Holzknüppel genommen und es erledigt. Nach einer Minute war alles vorbei."

Selbst heute, viele Jahre nach ihrer Zeit in der Terrormiliz Lord's Resistance Army (LRA), ist der Tod ein stiller Begleiter für Grace Achara. Die 29-Jährige hat mehr als die Hälfte ihres Lebens in der LRA verbracht –  Brutalität und die Trennung von ihren Angehörigen haben Spuren hinterlassen.

Viele  Jahre hat Europa die Exzesse der Grausamkeit in Uganda ignoriert. Erst durch die umstrittene KONY 2012-Kampagne wurde das Schicksal von 30.000 entführten Kindern – jedes vierte ein Mädchen –  für ein paar Wochen ein Nachrichten-Thema. Sie waren von Joseph Konys LRA gekidnappt worden, die sich erbitterte Kämpfe mit den Truppen von Präsident Yoweri Musevenidie lieferte.

Heute hat die Welt ihre Aufmerksamkeit wieder auf andere Regionen gerichtet. Schlecht für Grace und die vielen anderen, denen bis heute die Flucht aus den Reihen der LRA gelungen ist. Sie haben ihr Leben riskiert, als sie vor der Terrormiliz flohen – und müssen nun erneut kämpfen, allein auf sich gestellt. Hat es sich gelohnt, dafür das Leben aufs Spiel zu setzen?

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Wie es ist, ohne Angst vor Tod und Gewalt in Frieden zu leben, hatte Grace beinahe verlernt. Sie war erst 14, als sie 1999 von Soldaten der LRA entführt wurde und den Kontakt zu ihrer Familie verlor.

Nach kurzer Zeit plant Grace, aus den Reihen der  LRA-Milizen zu fliehen. Sie denkt auch daran, sich umzubringen.

"Dann traf ich eines Tages Simon", erzählt Grace. "Es war wohl Gott, der uns zusammengebracht hat." Kurz nachdem ihr erster "Ehemann" bei einem Gefecht mit der ugandischen Armee getötet worden ist, begegnet sie dem Befehlshaber einer anderen LRA-Einheit.

"Simon versprach, sich für immer um mich zu kümmern. Wir sind jetzt seit zehn Jahren zusammen."

Simon kennenzulernen war ein Wendepunkt in ihrem Leben, sagt sie rückblickend: "Zum ersten Mal seit Jahren war ich wirklich glücklich." Während ihrer gemeinsamen Zeit in den Reihen der LRA bekommen sie vier Kinder.

Doch das Glück der beiden trübt sich ohne Vorwarnung – Simon wird von anderen LRA-Rebellen beschuldigt, einen Fluchtversuch unterstützt zu haben. Konys Truppen sind für erbarmungslose Willkür berüchtigt, auch nach innen. Für Simon bedeuten die Vorwürfe akute Lebensgefahr.

Wenige Wochen später ist Grace wieder zu Hause in Uganda – die erste Anlaufstelle ist ein Aufnahmezentrum der Hilfsorganisation Gulu Support the Children Organisation (Gusco). 1994 gegründet, bietet Gusco medizinische Hilfe, Trauma-Beratung, Familienzusammenführungen und berufliche Weiterbildung an. Gucso will den ehemaligen Kindersoldaten helfen, in ihren Heimatdörfern wieder Fuß zu fassen.

Tausende Frauen und Kinder haben die Programme durchlaufen, in denen sie  – begleitet von psychosozialer Unterstützung – für einen neuen Beruf ausgebildet wurden, denn viele haben keine abgeschlossene Schulausbildung.

Doch heute ist das Zentrum verlassen; die Klassenräume stehen leer und der Spielplatz rostet vor sich hin.

Es fehlt das Geld. Seit die LRA 2006 aus dem Norden Ugandas verjagt worden war und die anfangs enorme Zahl der Heimkehrenden immer kleiner wurde, gibt es immer weniger Mittel von der Regierung und von humanitären Organisationen.

Grace war 2014 eine Woche bei Gusco, als man sie bat, wieder zu gehen. Die meisten vor ihr haben wenigstens ein kleines Hilfspaket mit auf den Weg bekommen, mit umgerechnet 100 Dollar Bargeld und Haushaltsvorräte. Grace bekam nur eine Matratze, eine Decke und ein Moskitonetz.

Ginge es nach Lucy Lapoti, hätte Grace mindestens drei Monate bei Gusco bleiben können. Lapoti arbeitet für die Amnestie-Kommission der ugandischen Regierung. Ihre Aufgabe ist es, das Amnestie-Gesetz aus dem Jahr 2000 umzusetzen, mit dem die Wiedereingliederung der ehemaligen Kindersoldaten erleichtert werden sollte.

"Grace geht es nicht gut. Sie denkt und fühlt immer noch wie in ihrer Zeit im Busch", sagt Lapoti. Grace sei zu einem Zeitpunkt zurückgekehrt, als es kein Geld mehr für Hilfe gab. "Wäre sie zehn Jahre früher zurückgekehrt, würde es ihr besser gehen."

Aus Sicht von James Ocitti, der Sozialarbeiter bei Gusco ist,  ist auch die geografische Verschiebung des Konflikts ein  Grund, dass frühere Milizmitglieder nur noch kurze Zeit im Aufnahmezentrum bleiben können: "Der Krieg gegen die LRA hat sich von Uganda in die Zentralafrikanische Republik und in die Demokratische Republik Kongo verlagert. Dort haben wir Partnerorganisationen, die mit der Rehabilitierung sofort beginnen können. Wir starten also nicht bei Null, wenn frühere Kindersoldaten hier ankommen."  Man erwarte in Kürze 50 Frauen für ein einmonatiges Training bei Gusco. Möglicherweise sei auch Grace eine von ihnen.

Doch Grace wartet immer noch. Ja, Gusco habe versprochen, sie in ein Trainingsprogramm zu holen. Aber das war vor einem Jahr.  

Mit ihrer Enttäuschung ist Grace nicht alleine. Viele ehemalige Kindersoldatinnen warten immer noch auf Rückmeldung. Anderen wurde mitgeteilt, man habe die Programme "wegen Geldmangel und der nahenden Weihnachtsferien" zusammenstreichen müssen.

"Es deprimiert mich, dass andere Leute von Gusco unterstützt wurden – warum ich nicht?" Sie erfülle die gleichen Kriterien wie frühere Heimkehrer: "Es ist nicht leicht, ein neues Leben zu beginnen, wenn man nichts besitzt."

Als Grace mit Simon dessen Eltern in Kitgum besucht, werden beide herzlich aufgenommen. Ganz anders reagieren die Menschen bei ihr zu Hause – wie sehr sie dort abgelehnt wird, überrascht Grace.

"Ich war so traurig, schließlich bin ich nicht freiwillig in den Busch gegangen", sagt Grace. "Ihre Worte haben mich verletzt. Aber ich versuche, das zu ignorieren. So ist die Welt eben. Vielleicht ist es das, was Gott für mich geplant hat."

Nach ihrem Umzug in die Region Nwoya leben Grace und Simon unbehelligt von den Nachbarn, die nichts über ihre Zeit bei der LRA wissen. Doch das Überleben bleibt ein Kampf.

Ohne Hilfe von Gusco und ohne eine richtige Beraufsausbildung ist es ausgerechnet eine Fertigkeit, die sie sich als Busch-Soldatin angeeignet hat, mit der Grace jetzt ihre Familie über Wasser hält.

Dass ehemalige LRA-Soldaten alleine auf sich gestellt sind, kritisiert David Ocitti scharf. Der Gründer der Hilfsorganisation Pathways to Peace betont, dass im Norden Ugands zwar seit Jahren Frieden herrsche, anderswo aber immer noch Krieg geführt werde: "Joseph Kony lässt weiterhin Menschen entführen in der Zentralafrikanischen Republik, in der Demokratischen Republik Kongo, im Südsudan. Wir brauchen dort weiter die Hilfe von Nichtregierungsorganisationen."  

Neue Zahlen stützen seine Einschätzung. Momentan kehren über 80 ehemalige LRA-Kämpfer im Monat zurück – in ein System, das kein Geld hat, um ihnen wirkungsvoll zu helfen.

Gleichzeitig gehen die massenhaften Entführungen weiter. Und das trotz der viralen KONY 2012- Kampagne, die dazu beigetragen haben dürfte, dass die US-Regierung ihre militärischen Anstrengungen für eine Ergreifung des LRA-Chefs ausgeweitet hat. Nach Angaben des LRA Crisis Tracker wurden allein in 2015 mehr als 300 Zivilisten von der Rebellengruppe verschleppt.

Konstant hoch sind auch die Zahlen der Rückkehrer. 348 ehemalige LRA-Soldatinnen und -Soldaten kamen in der ersten Jahreshälfte 2015 zurück. Setzt sich dieser Trend fort, werden es bis Ende des Jahres mehr als 2014 sein.

David Ocitti von Pathways To Peace fordert mit Blick auf diese Zahlen, Hilfsorganisationen müssten sich mehr darum kümmern, wie die Heimkehrer ihr neues Leben angehen können – zwischen den Zeilen ist sein Unmut herauszuhören. Etwa darüber, dass Rückkehrerinnen fast immer zu Näherinnen ausgebildet wurden. "Man hat sich zu wenig damit befasst, was diese Menschen eigentlich mit ihrem Leben machen wollen. Sie alle hatten einmal einen Traum. Wir sollten ihnen jetzt nicht unsere Ideen aufdrücken."

Dass Grace mit der Herstellung von Waragi-Schnaps nach und nach ihren Lebensunterhalt bestreiten kann, ist für ihn ein wichtiges Signal an alle, die noch im Busch kämpfen: "Es zeigt ihnen, dass es gute Gründe gibt, nach Hause zu kommen. Ihr Leben hat einen Sinn. Sie haben es nicht vergeudet."

Die Recherche von Marc Ellison für diese Reportage wurde durch ein "Innovation in Development Reporting"-Stipendium des European Journalism Centre ermöglicht, das durch die  Bill and Melinda Gates Foundation finanziert wurde. Grace Achara ist eine von mehreren ehemaligen LRA-Kämpferinnen, die Marc Ellison 2015 in Uganda getroffen hat. Schlüsselmomente aus ihrem Leben hat der ugandische Zeichner Christian Mafigiri für diese Geschichte als Comic-Sequenzen illustriert.

DWOG PACO – Reintegrating female former child soldiers

Aljazeera: The girls of the Lord's Resistance Army

The Star: Former child soldiers in Uganda have renewed hope for future