Köln – Das Neonlicht der Großstadt strahlt durch die kühlblaue Nacht. Der Betrachter steht abseits. Nur wenig weiter strömen Passanten an den erleuchteten Schaufenstern vorüber. Kasamatsu Shiro hat im Farbholzschnitt „Frühlingsnacht, Ginza“ (April 1934) Kontraste geradezu konzentriert. Einige Frauen tragen Kimonos, zwei hingegen westliche Mäntel und Hüte.
Direkt unter der grellen Leuchtreklame steht ein Sushi-Stand, dessen Vorhang einen tiefschwarzen Akzent setzt. Wunderbar malerisch fängt der Künstler die Atmosphäre des berühmten Geschäftsviertels in Tokio ein, er spielt mit dem Licht der späten Stunde.
Zu sehen ist das fabelhafte Blatt in der Ausstellung „Shin hanga“ im Museum für Ostasiatische Kunst in Köln. Hier wird erstmals der japanische Farbholzschnitt im 20. Jahrhundert vorgestellt. Kurator Chris Uhlenbeck wählte mehr als 200 Exponate aus zwei niederländischen Privatsammlungen und aus der Privatkollektion des wichtigsten Verlegers dieser Drucke, Watanabe Shozaburo, aus. Diese Phase des Mediums ist in europäischen Museen lange kaum beachtet worden. Dabei, so Uhlenbeck, sind die Drucke ästhetisch und technisch von höchster Qualität.
Seine große Zeit hatte der japanische Farbholzschnitt im 18. und 19. Jahrhundert. Damals schufen Künstler wie Hokusai, Hiroshige, Utamaro die Ukiyo-e, die Bilder aus einer fließenden Welt, eigentlich Massenware, Reklame für Restaurants, Theater und Bordelle oder auch Unterhaltung. Sie wurden zu einem globalen Phänomen, beeinflussten die europäische Moderne. Im späten 19. Jahrhundert erlebte Japan einen Modernisierungsschub. Die Druckkunst verlor ihre Popularität an neue Medien wie Fotografie und Lithografie. Vor allem durch die Arbeit des Verlegers Watanabe Shozaburo (1885–1962) kam es noch zu einer Herbstblüte der Farblithografie, diesmal als erlesene Luxusprodukte für Sammler.
Die „Shinsaku-hanga“, die neu produzierten Drucke, kurz Shin hanga, hatten besonders bei Touristen Erfolg. Die berühmten Werke von Hokusai, Hiroshige und Co wurden nachgedruckt und reproduziert. Hier knüpften die Künstler der Shin hanga an. Ihre Motive waren oft nostalgisch und vermittelten die Klischee-Eindrücke eines alten, agrarischen Landes. Tatsächlich hatte sich Japan geändert, wie man in Filmszenen mit Großstadtmomenten aus dem damaligen Tokio in der Schau sehen kann.
Watanabe Shozaburo machte sich 1906 nach einer Verlagslehre in Tokio selbstständig. Watanabe sah den Niedergang der Tradition des Ukiyo-e und fürchtete, dass die Technik, die Fähigkeit, diese Kunstwerke zu schaffen, verloren gehen könnte. Dabei war ihm klar, dass für eine Erneuerung auch neue Ausdrucksformen nötig sein würden. Ausgerechnet in einer Ausstellung mit Werken des österreichischen Künstlers Fritz Capelari fand er 1915 Inspirationen für eine Erneuerung des Holzschnitts. Arbeiten von Capelari, der mit dem Blatt „Heimkehr im Regen“ wiederum bei Meistern wie Hokusai anknüpft, stehen auch am Anfang der Kölner Ausstellung. Sein Querformat „Frau mit schwarzer Katze“ wurde vorbildhaft für japanische Zeichner.
Für die Shin hanga wurde die arbeitsteilige Herstellung beibehalten. Ein Künstler zeichnete einen Entwurf, ein Holzschneider übertrug das Motiv in den Block, ein Drucker brachte das Werk auf das Papier. Sie alle nahmen Einfluss auf das fertige Bild. So wurden Wolkenstrukturen und die feinen Schraffuren für den Regen vom Drucker erzeugt, der das Papier mit dem Baren, einer runden Scheibe, auf den Block presste. Zentral war auch die Rolle des Verlegers, Watanabe machte seinen Künstlern Vorgaben für die Motive, was in Einzelfällen dazu führte, dass Künstler die Zusammenarbeit beendeten. Es hatte sich ein großer Markt für Drucke gebildet, speziell in den USA war die Nachfrage groß. Watanabe hatte im Blick, was gut verkäuflich war. Die künstlerische Qualität der Shin hanga erreichte Uhlenbeck zufolge in den 1920er Jahren eine unübertroffene Qualität. Die Blätter wurden 20 oder 30 mal bedruckt, um besonders satte Töne zu erreichen. Es wurden teure Pigmente und hochwertiges Papier verwendet, das die Farbe gut aufnahm. So entstanden Drucke mit grandiosen malerischen Effekten, mit subtilen Nuancen und feinsten Linien. Eine Zäsur war das große Erdbeben vom 1. September 1923, bei dem rund 100 000 Menschen starben und Tokio verwüstet wurde. Auch Watanabes Verlag wurde zerstört, Druckstöcke und die Lagerbestände gingen verloren. Drucke „vor dem Erdbeben“ sind extrem selten. Der Verleger nahm die Produktion trotzdem schnell wieder auf.
Die Ukiyo-e zielten eher auf eine grafische Wirkung ab. Die neuen Drucker knüpften bei den traditionellen Werkgruppen an, so den Bildern „schöner Frauen“, den Landschaften und Naturdarstellungen, zum Beispiel Bildern von Vögeln. Manche zuvor sehr beliebte Motive hingegen wurden nicht mehr bearbeitet wie historische, mythologische und erotische Szenen. Auch gab es keine mehrteiligen Bilder.
Auch die Auffassung traditioneller Motive wurde geändert. Die schönen Frauen der alten Meister waren stilisiert, Typen von Geishas, Kurtisanen, Tänzerinnen. Die Shin hanga zeigten Frauen individueller, oft in einem nachdenklichen Moment. Ito Shinsuis Blatt „Vor dem Spiegel“ (1916) zeigt Anklänge an impressionistische Malerei, wie auch die anmutige Komposition „Winter (Shinchi): Vor dem Spiegel“ von Kitano Tsunetomi (1918). Grandios fängt Torii Kotondo in „Morgendliches Haar“ (1931) einen Moment der Nachdenklichkeit ein: Die schöne Frau denkt nach dem Aufwachen an ihren Geliebten. Das Blatt ist virtuos in der feinen Schraffur des grünen Hintergrunds (ein Moskitonetz), in der Ausarbeitung der Haare. Anders als viele Kollegen garantierte der Verleger Ikeda limitierte Auflagen. Zum eigentlichen Kunstwerk bekamen die Käufer als Nachweis einen Schwarz-Abzug des nach 100 Abdrucken beschädigten Blocks. In Köln hängt das Blatt ebenfalls. Das Motiv empfanden die prüden Zensurbehörden als zu sinnlich, so dass nicht einmal die vollen 100 Blätter gedruckt werden konnten.
Meisterlich sind auch Landschaftsdarstellungen. In den Blättern von Kawase Hasui findet man Elemente von Jugendstil und Impressionismus. Stilisiert zeigt er die Kamin(no)-Brücke in Fukugawa (1920) und gibt das Schneetreiben in „Ein wunderschöner Winterhimmel“ (1921) geradezu fühlbar wieder.
Und die moderne Welt findet Eingang in die Shin hanga. Künstler wie Kobayakawa Kiyoshi zeigen das Modern Girl (Modan Garu, kurz Moga) wie in „Tipsy“ (1930), die uns mit Kurzhaarfrisur und Zigarette über einen Cocktail zulächelt. Yamamuri Koka schuf die Szene „Tanzen im New Carlton Hotel, Shanghai“ (1924). Und neben traditionellen Schauspielerporträts sieht man von Koka auch Morita Kan‘ya XIII als Valjean in „Les Miserables“ (1921). Tsuchiya Koitsu zeigt einen Straßenzug mit Automobilen („Ginza im Regen“, 1933), und Kawase Hasui bildet die Stahlbrücke von Shin-Ohasi ab (1926), deren Vorgängerin ein berühmtes Motiv für Hiroshige war.
In der Ausstellung stellt das Museum auch einen erlesenen Wandschirm vor, eine Neuerwerbung, mit lebensgroßen Tigern bemalt von Yoshida Hiroshi, einem der Meister der Shin hanga.
Bis 6.6., di – so 11 – 17 Uhr, Tel. 0221/ 221 28 608, www.mok.koeln
Katalog, Verlag Hatje Cantz, Berlin, 35 Euro