YouTube Phänomen der Stunde – "7 vs. Wild": Überleben im Selfie-Modus | STERN.de

2023-02-22 17:18:22 By : Mr. Caroline Mao

"Du musst hart sein, wenn der Dschungel weint!", brüllt Jens Knossalla durch den strömenden Regen in die wenige Meter vor ihm drapierte Kamera. Dass es im Paradies so ungemütlich sein würde, damit hat der "König des Internets", wie sich der Entertainer selbst nennt, vermutlich nicht gerechnet. Der 36-Jährige leidet zwar alleine, aber nicht als einziger. Während sich Knossi mehr schlecht als recht unter eine Palme kauert, versuchen zeitgleich sechs weitere Kandidaten und Kandidatinnen verzweifelt, sich vor den tropischen Tränen zu schützen. Alle sieben sind freiwillig gestrandet – auf einem dicht bewachsenen Eiland irgendwo vor der panamaischen Küste. Sieben Tage lang sind sie komplett auf sich allein gestellt. Es ist die zweite Staffel eines der, wenn nicht des erfolgreichsten deutschen Youtube-Formats aller Zeiten: "7 vs. Wild". Noch nie war Reality-TV realer.

Im Gegensatz zu früheren Survivalformaten wie "Bear Grylls", als der Zuschauer zusah, wie ein britischer Ex-Elitesoldat in der Wildnis in vermeintlicher Einsamkeit daumendicke Maden ausschlürfte, um an deren wertvolles Protein zu kommen, sind die Kandidaten bei "7 vs. Wild" tatsächlich auf sich allein gestellt. Kein Kamerateam, keine Drohnen, kein Kontakt zur Außenwelt: ein Überlebenskampf im Selfie-Modus.

Natürlich ist das Filmmaterial in mundgerechte Episoden geschnitten – trotzdem gibt es für die Zuschauer keine Action-Garantie. Wenn es regnet (und es regnet oft), frieren die Teilnehmer. Wenn sie hungrig sind, essen sie Kokosnüsse. Und wenn ihnen die Isolation nach den ersten Tagen zusetzt, weinen sie. Lediglich zu Beginn der ersten Folge, als die Kandidaten vor der Aussetzung in Michael-Bay-artiger Slow-Motion, untermalt mit DMAX-verdächtigen Gitarrenriffs in den Helikopterhangar marschieren, kommt Rambo-Feeling auf. Danach überspitzen die Produzenten mittels Musik aus der Retorte fast schon klischeehaft die allerkleinsten Wendungen. Je nach Bedarf kündigen düstere Klänge vermeintliche Gefahren an, begleiten quälende Laute emotionale Tiefs und Hochs.

In der Regel passiert in den meist weit über eine Stunde langen Episoden aber größtenteils: nichts. Nur war "nichts" selten so unterhaltsam. Wenn Fitness-Influencer Sascha freudestrahlend Süßwasser findet, wenn Zuschauer-Kandidat Joris genüsslich auf eine Frucht beißt, wenn Knossi sich mit einem erleichterten Seufzen in seine Hängematte fallen lässt, "macht das was" mit dem Zuschauer. Der weiß zwar nicht warum, aber er freut sich mit. Frei nach dem Motto "Das Leben schreibt die besten Geschichten" gibt "7 vs. Wild" dem Reality-TV die Reality zurück.  

Wie bereits in der ersten Staffel sind die Teilnehmer so herrlich unterschiedlich, dass der Zuschauer jeden Schauplatzwechsel herbeisehnt, bedauert oder verflucht. Empathiebefreit kommt aber niemand durch eine Folge. Was schnell klar wird: Nicht Hunger oder Durst, nicht die ewig nasse Kälte, nicht einmal die Angst vor Krokodilen in der Nachbarschaft bringt die Teilnehmer an ihre Grenzen. Es ist die völlige Isolation, die ihnen zusetzt. Die Tagesaufgaben (aus Spoilergründen sei an dieser Stelle nicht näher darauf eingegangen) sollen nicht nur die Spannung für den Zuschauer erhöhen, sondern vor allem die Teilnehmer geistig bei Laune halten. Es geht nicht ums Gewinnen, es geht ums Durchhalten – die wohl passendste Metapher, die ein Reality-Format bieten kann. 

Bereits die erste Staffel ging, es lässt sich nicht anders sagen, völlig durch die Decke. Jede der insgesamt 16 Folgen wurde bis heute im Schnitt mehr als 5,5 Millionen Mal angesehen. Die neue Staffel toppt das sogar noch: Einige der bislang acht erschienenen neuen Folgen wurden bereits jetzt teils mehr als acht Millionen Mal aufgerufen. Sobald eine neue Folge (mittwochs und samstags 18 Uhr) verfügbar ist, dauert es keine Stunde, bis die Klicks in die Hunderttausende gehen.

Für den Zuschauer ist es spannend zu beobachten, wie die verschiedenen Kandidaten mit ein und derselben Situation umgehen: Wenn es regnet, regnet es schließlich bei allen. Auch die Kandidatenmischung gehört für Meinecke zum Erfolgsrezept. Denn: "Keiner will sieben Survival-Profis sehen. Niemand will aber auch sieben komplette Anfänger sehen", erklärte er vergangenes Jahr im Interview bei "World Wide Wohnzimmer" – ebenfalls ein, wie könnte es anders sein, Youtubeformat. Tatsächlich gibt Meinecke, der als einziger Kandidat schon bei Staffel 1 mit der Einsamkeit rang, "klassischen" Medien nur sehr selten Interviews – wenn überhaupt, schickt er Sprachnachrichten. Könnte daran liegen, dass er qua Beruf ständig unterwegs ist. Oder daran, dass der 33-Jährige einfach anders denkt. Das würde zumindest erklären, warum nach dem bahnbrechenden Erfolg der ersten Staffel weder ein großer TV-Sender noch ein Streamingdienst das Ruder übernommen – oder zumindest bezahlt hat. 

Wann, wie und warum Inhalte "viral gehen", lässt sich auch im Nachhinein selten beantworten. Der Erfolg von "7 vs. Wild" erklärt sich allerdings zumindest ein Stück weit genau dadurch: Als Youtube-Eigengewächs haben zahlreiche bekannte Streamer Reaktions-Videos zu "7 vs. Wild" auf ihren Kanälen hochgeladen. Streaming als Symbiose, als sich selbst befruchtendes System. Das Team Meinecke ist niemandem Rechenschaft schuldig, keine Sendeanstalt sitzt den Produzenten im Nacken.

"Life begins at the end of your comfortzone", heißt es in Meineckes-Onlineshop. Das stimmt nicht ganz: Mit "7 vs. Wild" beginnt das "echte" Leben auf der Wohnzimmercouch. 

Quellen: "7 vs. Wild" Staffel 2 auf Youtube; Interview Meinecke bei "World Wide Wohnzimmer"; "7vswild.eu" (Community-Website)

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